Stationäre körperbezogene Psychotherapie bei Anorexia und Bulimia nervosa. Psychotherapeut, 51, 35-42. 

Fragestellung / Hypothesen
Anorexie- und Bulimie-Patientinnen zeigen Störungen der Symbolisierungsfähigkeit, Körperbildstörungen und strukturelle Defizite. Die therapeutische Erreichbarkeit durch verbale Therapie ist limitiert. Die Studie untersucht vor diesem Hintergrund die Relevanz körperbezogener Therapieformen für den Behandlungsprozess in der stationären Psychotherapie. Als körperbezogene Therapieverfahren werden untersucht: (1) Die Kommunikative Bewegungstherapie im Gruppen-Setting, die viele Gemeinsamkeiten mit der Konzentrativen Bewegungstherapie aufweist, und (2) eine einzeltherapeutische Körperwahrnehmungstherapie, die auf Grundelementen der Konzentrativen Bewegungstherapie basiert und mit Aspekten der Konzentrativen Entspannung und der Integrativen Bewegungstherapie verknüpft wird. In Hinblick auf diese körperbezogenen Therapieverfahren wird folgenden Fragestellungen nachgegangen: (1) Wie wird die Wirksamkeit dieser Verfahren im Kontext der verschiedenen therapeutischen Angebote stationärer Psychotherapie von Anorexie- und Bulimie-Patientinnen eingeschätzt? (2) Wie beurteilen die Therapeuten die Wirksamkeit der körperbezogenen Verfahren für diese beiden Patientinnen¬gruppen?

Stichprobe
Alle in der Universitätsklinik Halle in einem Jahr behandelten Patientinnen mit Anorexie oder Bulimie nervosa (N=52). Für 43 dieser Patientinnen lagen vollständige Datensätze vor (15 Anorexie-Patientinnen, 28 Bulimie-Patientinnen). Die Behandlungsdauer betrug 12 Wochen.

Untersuchungsdesign
Im Rahmen einer klinischen naturalistischen Studie wurde die Wirksamkeit der zwölf angebotenen Therapieformen durch die Patientinnen zu drei Zeitpunkten (nach zwei und sechs Wochen Behandlung sowie zum Behandlungsende) beurteilt; ebenfalls erfolgte eine Wirksamkeitsbeurteilung von Seiten der Therapeuten, wobei nicht geschildert wird, ob diese auch zu den drei Zeitpunkten oder nur zum Behandlungsende erfolgte.

Datenerhebungsverfahren
Zum Einsatz kam der Therapieformenfragebogen (TFB; Konzag et al., 2000).

Datenauswertungsverfahren
Anhand der Beurteilungswerte für die einzelnen Therapieverfahren im TFB werden die Ergebnisse zu einem Ranking aggregiert. Die Beurteilungen von Anorexie- und Bulimie-Patientinnen werden deskriptiv miteinander verglichen.

Ergebnis
Anorexie-Patientinnen halten im Wirksamkeitsranking aller zwölf Therapieformen nach zwei Wochen die Patienteninteraktion, die Einzelpsychotherapie und die Kommunikative Bewegungstherapie am wirksamsten; die Körperwahrnehmungstherapie steht auf Rang 9. Nach sechs Wochen fällt das Wirksamkeitsranking identisch aus; zum Behandlungsende wird der Gruppenpsychotherapie die größte Wirksamkeit zugesprochen, gefolgt von der Körperwahrnehmungstherapie und der Kommunikativen Bewegungstherapie. Das Wirksamkeitsranking der Bulimie-Patientinnen unterscheidet sich nach zwei und sechs Behandlungswochen nicht von dem der Anorexie-Patientinnen. Zum Entlassungszeitpunkt wird von ihnen der Gruppenpsychotherapie die größte Wirksamkeit zugesprochen, gefolgt von der Patienteninteraktion; die Kommunikative Bewegungstherapie belegt den Rangplatz 9 und die Körperwahrnehmungstherapie den Rangplatz 11. Aus Therapeutensicht weisen die beiden körperbezogenen Therapieformen in Hinblick auf die Behandlung des Körperbilds bei 40% der Anorexie-Patientinnen und bei 75% der Bulimie-Patientinnen eine hohe Wirksamkeit auf; bei 27% der Anorexie-Patientinnen und bei 11% der Bulimie-Patientinnen wird keine Wirksamkeit konstatiert.

Anmerkung
Auch wenn es sich bei den beiden untersuchten körperbezogenen Therapieverfahren nicht um “reine” KBT handelt, besteht gemäß den Angaben der Autoren eine große Ähnlichkeit mit der KBT im therapeutischen Vorgehen. Die Autoren interpretieren die Ergebnisse ihrer Untersuchung als Hinweis auf einen Phasenverlauf stationärer Psychotherapie, in den die körperbezogenen Therapien eingebettet sind. Demnach ermöglicht die Kommunikative Bewegungstherapie den Patientinnen einen leichteren Einstieg in den Therapieprozess als die verbale Gruppentherapie. Die Anorexie-Patientinnen bewerten anders als die Bulimie-Patientinnen die körperbezogene Therapie im Einzel- und im Gruppen-Setting bis zur Endphase der Behandlung als bedeutsam. Allerdings kontrastiert diese subjektive Einschätzung der Anorexie-Patientinnen mit der Beurteilung der Therapeuten, die bei über der Hälfte der Anorexie-Patientinnen keine durchgreifende Verbesserung der schweren Störung des Körperbildes feststellen. Unter methodischen Gesichtspunkten ist festzustellen, dass die anhand des Wirksamkeitsratings getroffenen Aussagen zum Vergleich von Anorexie- und Bulimie-Patientinnen sowie den drei Messzeitpunkten keinen Bestand haben, da nicht auf die tatsächlichen Beurteilungen (Rating-Werte) im TFB sondern auf die davon abgeleiteten relativen Wirksamkeitseinschätzungen (Ranking-Werte) Bezug genommen wird. So müssen die teilweise unterschiedlichen Rangplätze für die Kommunikative Bewegungstherapie oder Körperwahrnehmungstherapie im Vergleich von Anorexie- und Bulimiepatientinnen nicht zwangsläufig mit tatsächlichen Unterschieden in der ursprünglichen Wirksamkeitseinschätzung im TFB einhergehen. Da die Angaben zur Wirksamkeitseinschätzung der Therapeuten auf Rating-Werte, die der Patienten aber auf Ranking-Werte basieren, lässt sich auch keine Aussage darüber treffen, ob tatsächlich - wie behauptet - die subjektive Wirksamkeitseinschätzung der Anorexie-Patientinnen diskrepant zur Beurteilung der Therapeuten ausfällt.

pdfDAKBT_Konzag_Klose_Bandemer_Greulich_Fikentscher_Bahrke_2006.pdf