Angst - Phänomen und/oder Störung?
Bericht von der 47. Internationalen Fachtagung für Konzentrative Bewegungstherapie
17. bis 20. Oktober 2024
Wilhelm-Kempf-Haus, Wiesbaden-Naurod
Im Rahmen der jährlich stattfindenden internationalen Tagung ist KBTler:innen und Interessierten anderer Berufsgruppen die Gelegenheit willkommen, sich weiter zu vernetzen. In vielerlei themenbezogenen Vorträgen und Workshops besteht die Möglichkeit, Wissen aufzufrischen und zu erweitern und gleichzeitig in gegenseitigen Austausch zu gehen. Wie jedes Jahr konnten die Teilnehmer:innen am Büchertisch der Kongressbuchhandlung aktuelle Publikationen einsehen und erwerben.
Andrea Balcerzak eröffnete im Namen des Vorstands die Jahrestagung und stellte die engagierte Vorbereitungsgruppe sowie das neue Gesicht in der Geschäftsstelle Frau Alexandra Scheinpflug vor.
Sie gab einen Ausblick auf die Vorträge und Workshops, die mit verschiedensten Betrachtungsweisen an Angst und Angststörungen herangehen. Besonders wies sie auf die Mitgliederversammlung hin, im Rahmen derer über Beschlussvorlagen in Bezug auf das zu gründende Institut und die Änderung der Weiterbildungsordnung abgestimmt werden sollten.
Anlässlich des 20. Todestages von Helmuth Stolze, den Begründer der Konzentrativen Bewegungstherapie, hatten Anke Hamacher-Erbguth und Christine Breitenborn im Foyer eine Ausstellung zu seinem Gedenken gestaltet.
Das Vorbereitungsteam bestand in diesem Jahr aus Lydia Stapel, Gisela Düro, Renate Ölschläger und Sina Merk. Nach der Begrüßung führten sie in einem Rollenspiel in das Thema der Tagung ein und schufen eine spannungsvolle Atmosphäre. Die Vorträge wurden in einem chronologischen Abriss kurz beschrieben, bevor ein Überblick über die wichtigsten Ereignisse der Tagung erfolgte.
Die Vorträge
Im Eröffnungsvortrag zum Thema ‚Angst vermeiden und erkunden – Psychoanalytische Modelle zu Angst und Angststörungen‘ erläuterte Prof. Dr. med. Hermann Staats das Phänomen Angst und seine Funktionen und stellte die Kennzeichen von Angststörungen heraus. Er wies auf die Verbindung mit vielerlei klinischen Störungsbildern hin. Über Angst zu sprechen stellte er als essenziellen Indikator für den Behandlungserfolg heraus. Ebenso verwies er auf die Wichtigkeit, interpersonelle und strukturelle Voraussetzungen genau zu berücksichtigen.
Am Freitag referierte Prof. Dr. med. Jens Plag über ‚Die Effekte von Bewegung und Sport auf Neurobiologie und Klinik der Angststörungen‘. Aus dem Bereich seines Forschungsschwerpunktes Angst gab er zunächst einen Einblick in die Einordnung der unterschiedlichen Angststörungen in der ICD-10 und der Erweiterung in der ICD-11. Sodann spannte er den Bogen über Prävalenz, Risikofaktoren und die neurobiologischen Effekte der Psycho- wie der Pharmakotherapie bis hin zu der großen Rolle von Bewegung auf alle psychischen Erkrankungen. Plag zeigte studienbasiert die hohe Wirksamkeit von verschiedenen Bewegungsinterventionen auf. So wirken sich beispielsweise Art und Dauer des Trainings auf die Effektivität bei Angststörungen aus.
Am Forschungsabend vertiefte Jens Plag dieses Thema in Bezug auf ‚Bewegungsinterventionen im Bereich der Musiker:innenmedizin‘. Hier auftretende Ängste lägen oft schon in der Biographie der Betroffenen begründet und äußerten sich in vielfältigen Erkrankungsbildern (z.B. Verkrampfungen in den Fingern, Auftrittsangst, …). Nach Plag seien Orchestermusiker:innen generell, besonders Streicher und Tasteninstrumentalist:innen aus dem Genre der Klassik, die am meisten belasteten Musiker:innengruppen. Die Wirksamkeit von Bewegungsinterventionen zeigte er anhand diverser Studien auf.
Prof. Dr. Klaus-Peter Seidler stellte im Anschluss daran die gerade laufende Untersuchung der KBT-Forschungsgruppe des DAKBT vor. Diese untersucht, wie KBT-Therapeut:innen die Behandlung ihrer Patient:innen beurteilen. Anschaulich das Prozedere beleuchtend erklärte er die Phasen und Hürden der Fragebogenerstellung bis hin zum Start der Studie. Er präsentierte vorläufige Ergebnisse, da aufgrund zu geringer Datenlage die Studie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen werden können. In einer verlängerten Erhebungszeit von drei bis vier Monaten sollen nun noch weitere Fragebögen gesammelt werden. Seidler warb bei den anwesenden Kolleg:innen um die Bereitschaft zur Teilnahme.
Am Samstag bot Barbara Bayerl einen lebendigen und bewegenden Vortrag mit dem Thema ‚„Angst essen Seele auf“ – Facetten der Angst in der KBT-Arbeit‘ dar. Sie stellte nach einem kurzen Abriss über die eigene Angstbewältigung die Säulen ihrer Arbeit heraus: das Spielerische, den Humor und die Arbeit mit Symbolen. Es habe sich in der Praxis als wichtig erwiesen, psychoedukative Elemente einzubringen, um den Patient:innen die Zielsetzung deutlich zu machen. Im Fokus stehe immer, das ‚window of tolerance‘ zwischen Kampf und Flucht (Hyperarousal) und Erstarren (Hypoarousal) so weit möglich zu vergrößern. Bayerl stellte einige Beispiele aus ihrer Arbeit vor und hob die in ihrer Therapeutinnenrolle so wichtige Verbindung zu sich selbst und zur eigenen Angst hervor.
Nach einer Pause bestand die Möglichkeit, mit dem gleichnamigen Film von Rainer Werner Fassbinder „Angst essen Seele auf“ das Thema zu vertiefen und sich darüber auszutauschen.
Schließlich schloss die Vortragsreihe am Sonntag mit Prof. Dr. med. Christoph Nikendeis Vortrag mit dem Thema ‚Angst im Zeichen der Klimakatastrophe und anderer globaler Krisen‘. Er bereicherte seinen Vortrag mit zahlreichen Fotografien, Karikaturen und Cartoons, die in ihrer Ironie dem Thema einerseits ein Stück Schwere nahmen und den Ernst der Lage gleichzeitig auf den Punkt brachten. Der Zusammenhang der planetaren Gesundheit und dessen Gleichgewicht sowie die Folgen der Wetterextreme auf das Wohlbefinden des Einzelnen (auch Suizidneigung) sorgte im Auditorium für Betroffenheit. Daraus entstand spontan der Wunsch, angeregt durch Marina Müller, einen internen Arbeitskreis zu gründen, der sich mit dem Thema auseinandersetzt. Nikendei sicherte überwältigt seine Unterstützung zu.
Die Workshops
Nach den Vorträgen stand es den Tagungsteilnehmer:innen frei, einen der folgenden vier Workshops zu besuchen.
In Workshop 1 zeigten Sabine Wessendorf und Karin Beck mit dem Thema ‚Jugendliche – zwischen Verunsicherung und Zuversicht‘ Behandlungsansätze der Jugendlichentherapie auf.
Silja Falkenhagen bot in Workshop 2 zum Thema ‚Mit Ängsten umgehen – sie überwinden mit KBT und Stimme‘ ein breites und praxisorientiertes Angebot. Mit KBT-Angeboten verquickt führte sie einfache und leistungsfrei präsentierbare Lieder ein, die sich zum sofortigen Einsatz in der praktischen Arbeit eignen.
946 Lebensjahre Erfahrung errechnete Renate Meyer in Workshop 3 mit dem Thema ‚Den Ängsten des Alterns begegnen‘. Sie zeigte darin auf, dass Altwerden auch einen Rückblick auf das gelebte Leben mit all den erlangten Ressourcen gestattet. Die Alterspsychotherapie mit KBT macht diese entscheidenden Aspekte erfahrbar.
Im Workshop 4 mit dem Thema ‚Angst vor Krankheit und Tod – Angst vor dem Leben?‘ waren für Anja Felter-Holzinger und Henrik Süß zunächst große Widerstände zu spüren. Die eigene Komfortzone zu verlassen und den eigenen Themen nicht aus dem Weg zu gehen zeigte sich als Herausforderung.
Die DAKBT-Mitgliederversammlung
Infolge der Informationen aus den Vortagen – gerade die Themen Institutsgründung, Gremienarbeit und Generalversammlung des EAKBT betreffend - verlief die Mitgliederversammlung des DAKBT am Samstagnachmittag reibungslos und zügig. Vertreter der Gremien stellten in kurzen Worten ihr Tätigkeitsfeld vor und der Vorstand wurde gewürdigt und entlastet. Hier die wichtigsten Beschlüsse:
„Das Institut ist gegründet!“ verkündete der Versammlungsleiter Frank Kasper. Einstimmig wurde die Satzungsänderung angenommen. Somit gibt es künftig ein KBT-Weiterbildungsinstitut, dessen Geschäftsordnung von den Lehrbeauftragten der Weiterbildungskommission in Person von Nina Freudenberg und Sabine Wessendorf vorangetrieben wird. Das Institut wird den Weiterbildungskandidat:innen mehr Orientierung und Qualitätssicherheit bieten und gleichzeitig einen Rahmen für die Außendarstellung geben. Auch die Änderung der Weiterbildungsordnung wurde angenommen. Soweit ausgearbeitet, wird es Wahlpflicht- und Pflichtseminare geben.
Bezüglich der Haushaltsplanung stimmte die Mehrheit der Anwesenden für eine geringfügige Anhebung der Mitgliedsbeiträge, um auch weiterhin kostendeckend agieren zu können.
Susanne Wagner stellte die neue Website vor und erhielt einen langen Applaus für ihre Bemühungen.
Der Festabend
Nach diesem anstrengenden Nachmittag startete der traditionelle Festabend mit zwei Einlagen: Heidi Kletts und Elvira Brauns Sketch zur ‚Professionalisierung‘ des Instituts erheiterte das Publikum in besonderer Weise.
Es folgte eine Darbietung einiger in Silja Falkenhagens Workshop erlernter Lieder, die das Publikum letztlich einlud, mitzusingen und im Kreis stehend Gemeinschaft zu erleben. Für viele Kolleg:innen ein wunderbarer Einstieg, um im Foyer ausgelassen das Tanzbein zu schwingen.
Abschluss und Ausblick
Die Jahrestagung ging am Sonntag mit Beifall zu Ende. Das Vorbereitungsteam hatte ein respektables Programm auf die Beine gestellt, obwohl alle im Team sich vor der Tagung noch auf ihre eigene Zertifikatsprüfungen vorbereitet hatten. Lydia Stapel und Gisela Düro konnten die KBT-Weiterbildung in der Zwischenzeit abschließen, Renate Ölschläger und Sina Merk stehen kurz davor.
Die nächste Jahrestagung wird als Gemeinschaftsprojekt von DAKBT und ÖAKBT von 9. – 11.10.2025 in Salzburg stattfinden und das Thema „Verbundenheit und Offenheit“ intensiv beleuchten. Turnusmäßig finden dort im Rahmen der DAKBT-Mitgliederversammlung wieder Vorstandswahlen statt.
Herzliche Einladung nach Salzburg 2025!
Bericht: Marille Lohmann Fotos: Christian Bredel und Almut Krämer